Johannes Scotus: Eine neue Konzeption der Welt und des Christentums

Johannes Scotus: Eine neue Konzeption der Welt und des Christentums
Johannes Scotus: Eine neue Konzeption der Welt und des Christentums
 
Im »dunklen« Mittelalter finden sich einige originelle Denker, die ihrer Zeit voraus waren, jedoch endeten viele von ihnen - von der Kirche verurteilt - als Ketzer. Eine der theologisch und geistesgeschichtlich interessantesten Gestalten, die alle diese Kriterien erfüllt, war der Iroschotte Johannes Scotus Eriugena. Er taucht scheinbar aus dem Nichts um die Mitte des 9. Jahrhunderts in der Umgebung der Hof- und Kathedralschule Karls des Kahlen im französischen Laon auf, wo er als Grammatiker lehrte. Seine Lebensdaten können wir nur erschließen, er wird wohl um 825 geboren und vor 880 verstorben sein. Seine umfangreichen Griechischkenntnisse, in dieser Zeit eine Ausnahme, kann er wohl nur in einem Kloster seiner irischen Heimat erworben haben.
 
Eriugena wurde in einer der schwierigsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen seiner Zeit, dem Prädestinationsstreit, als Schlichter berufen - einer Auseinandersetzung, in der es um die Frage der Vorherbestimmtheit des menschlichen Lebens durch Gott und damit um nichts geringeres als um den Gottesbegriff seiner Zeit ging.
 
In seinem Gutachten entzog Eriugena nicht nur der von Gottschalk von Orbais vertretenen doppelten Prädestination (der Geretteten und der Verdammten), die es zu widerlegen galt, den Boden, sondern führte die Prädestination überhaupt (das heißt auch die einfache Prädestination) ad absurdum. Bereits hier schlug sich seine Tätigkeit als Lehrer der »Freien Künste« nieder; es wird deutlich, welch hohen Stellenwert er der konsequenten Anwendung der Logik in seinem Gesamtwerk zubilligt. Nach seinem Gutachten schlugen die Wellen hoch: Etliche Gegengutachten wurden erstellt, mehrere Synoden verurteilten seine Vorstellungen, eine Bischofsversammlung bezeichnete seine Schrift als »irischen Brei«. Eriugena selbst schien von diesen Vorwürfen ziemlich ungerührt; offensichtlich verfügte er über massiven Rückhalt am Hof Karls des Kahlen.
 
In seiner »Einteilung der Natur« versteht es Eriugena, in einer nahezu einzigartigen Synthese neuplatonisches Gedankengut mit christlichen und irisch-keltischen Elementen zu verbinden. Schöpfung bedeutet für ihn einen Prozess der Selbstentfaltung Gottes: Ausgangspunkt bildet die göttliche All-Ursache, die zunächst allein existiert und aus sich herausgehend, quasi durch ihr eigenes Denken, ewige Ideen hervorbringt (Emanation). Diese Ideen wirken als Urbilder und Formen der Welt, in der wir leben, mit ihren sinnlich wahrnehmbaren Dingen. Ziel des ganzen Schöpfungsprozesses liegt in der zukünftigen Rückkehr aller Dinge, von den leblosen Gegenständen, über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen zurück zum gemeinsamen göttlichen Ursprung.
 
Da Eriugena im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen sein System konsequent zu Ende dachte, ergaben sich neuartige theologische Schlussfolgerungen: Die Schöpfung aus dem Nichts, wie sie die Heilige Schrift berichtet, wird zur Schöpfung Gottes aus sich selbst heraus, der statische Gottesbegriff wird dynamisiert, und die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott ermöglicht dem Menschen Gotteserkenntnis durch eigene Selbsterkenntnis. Im Gegensatz zu den drastischen Höllenvorstellungen seiner Zeit versteht Eriugena Hölle und Gericht psychologisch als Selbstverdammnis des sich von Gott abwendenden Menschen; Paradies und Hölle sind für ihn keine physischen Orte im Jenseits, sondern nur unterschiedliche Befindlichkeiten des Menschen. So ergibt sich aus einer engen Verbindung von Gott und Welt eine durchweg positive Einschätzung von Welt und Mensch. In letzter Konsequenz führt ihn seine Logik bis zur Aufhebung des Bösen in der Welt und zum Gedanken einer Heilsperspektive für alle Menschen. Naturwissenschaftliche, astronomische, biologische und geographische Argumente fließen in sein Werk mit ein; er widmet sich sogar der Auseinandersetzung mit den Problemen von Raum, Zeit und Materie.
 
Auch methodisch ging Eriugena neue Wege; offensichtlich ist seine große Wertschätzung der menschlichen Vernunft und Erkenntnisfähigkeit: Vernunft geht für ihn der Autorität voraus, selbst die Heilige Schrift bedarf ihrer zu einer sachgerechten Auslegung. Der Ire zeichnet sich in seinem Denken durch eine geradezu wissenschaftliche Methodik aus. Nicht umsonst wählt er als Form seines Hauptwerks den Lehrer-Schüler-Dialog, wie ihn in der Antike Platon verwendet hatte.
 
Das Werk des Eriugena erfuhr eine bemerkenswerte Rezeption in den Schulen von Chartres und Sankt Viktor, in der Mystik und im deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts. Seine kirchliche Verurteilung unter dem Verdacht des Monismus mehrere Jahrhunderte nach seinem Tod (1210 und 1225) konnte seine Bedeutung nicht schmälern.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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